Erinnerungen an Gerhard Jockers

Erinnerungen an Gerhard Jockers

Der Schock traf uns völlig unerwartet spät abends am 28. Dezember 2001: Mein Stiefvater Gerhard Jockers weilte zur Rehabilitation von seinen zwei Monate zuvor erlittenen komplizierten Brüchen des linken Knies und Oberschenkels noch immer im Krankenhaus und begann sich gerade zu erholen und wieder erste Pläne zu machen, als eine Embolie ihn buchstäblich von einer Minute auf die andere aus dem Leben riß; zwei Monate nach dem Heimgang meiner Mutter, den er noch längst nicht verwunden hatte.

Diese Ereignisse möchte ich zum Anlaß nehmen, einige persönliche Erinnerungen an Gerhard, der im Berliner und im Deutschen Schach kein Unbekannter war, zu Papier zu bringen. Aber lassen Sie mich dazu, liebe Schachfreunde, der ich immerhin vier Jahrzehnte mit ihm verbunden war, zunächst an den Anfang unserer Schachaktivitäten zurückgehen.

Als ich mich 1961 während einer Busfahrt mit einem Freund über das Schachspielen unterhielt, tippte mir ein älterer Herr, seine Name war Weiß und der eine oder andere Schachfreund erinnert sich vielleicht noch an ihn, auf die Schulter und gab mir die Adresse des Schachklubs Tempelhof. Ich hatte zuvor ein Jahr im Jugendheim in Neu-Tempelhof gespielt, war aber inzwischen zu alt, um an weiteren Jugendturnieren teilzunehmen, und deshalb der Tip. Zu dieser Zeit war ich bereits mit Gerhard befreundet, der dann 1963 meine Mutter heiratete, und hatte auch schon mit ihm einen privaten Wettkampf ausgetragen. Im Januar 1962 gingen wir dann, zugegebenermaßen etwas zögernd, aufgrund des erhaltenen Hinweises in den Schachklub Tempelhof, der damals noch in seinem Spiellokal in Alt-Tempelhof residierte.

Ich sehe uns noch heute unsicher und zögernd von der Eingangstür in den großen Saal spähen, in dem an langen Tischen Dutzende von Schachspielern eifrig und ohne aufzusehen die Figuren schoben. Da erhob sich in der hintersten Saalecke ein netter, fast kahlköpfiger Herr mittleren Alters, der zu uns eilte und uns freundlich begrüßte. Keine Frage, wer das gewesen ist, der allseits unvergessene Horst Warneyer, den man in späteren Jahren allerdings nie mehr ohne Toupet sah. So wurden wir also buchstäblich von der ersten Minute an in den SKT integriert und traten bereits am nächsten oder übernächsten Spielabend in den Schachklub Tempelhof ein. Dort traf ich zu meiner Überraschung auch einen ehemaligen Klassenkameraden wieder, den leider so früh verstorbenen Peter Tietz. Unglaublich, daß seitdem vier Jahrzehnte ins Land gegangen sind.

Unglücklicherweise war das mitten in der Spielsaison, und am Klubturnier konnten wir deshalb nicht mehr teilnehmen. Unser erster Wettkampfauftritt fand deshalb in einem Nachzüglerturnier statt, und im Sommer spielten wir dann ein sogenanntes Nebenturnier. Über die Ergebnisse breiten wir lieber den Mantel der Nächstenliebe, denn beide waren wir reine Freizeitspieler und verstanden noch viel zu wenig vom Schach, um schon richtig mitmischen zu können. In der Saison 1962/63 spielten wir dann aber doch schon das ganze Turnierprogramm und starteten in der vierten und damals untersten Mannschaft des SKT in der Besetzung Reetz, Karsen, Grabinger, Schubert, Lösche, Seeger, Ketterling und Jockers – der SKT und Schach als Wettkampfsport hatten uns endgültig in ihren Bann gezogen.

Damals lenkten Hermann Gulweida, Werner Liermann und Horst Warneyer vor und hinter den Kulissen die Geschicke des SKT. Richard Stange war als Spielleiter, der jeden an sein Brett und zum Spielen brachte, die Seele des Vereins, und Jungstar Hans-Joachim Hecht bereitete sich auf eine internationale Schachkarriere vor. Neben ihm spielten in der ersten Mannschaft unter anderem der unvergessene Willi Koch, Herbert Hohensee und Erwin Alexander. Die Meister Jürgen Dueball und Adolf Delander, der sogar Mitglied wurde, gingen eine Zeitlang im SKT ein und aus, und an den Spielabenden waren von den rund achtzig Mitgliedern auch regelmäßig wenigstens die Hälfte im Verein anzutreffen. Man denke nur an die ewigen Freizeitpaarungen Korte-E. Schmidt oder Mahlert-Boller. Unser jetziger Ehrenvorsitzender Alfons Henske war bereits seit 1961 im SKT-Vorstand tätig und schon damals ein sehr guter Spieler, der für uns zwei Patzer in höheren Schachregionen schwebte.

Eine sehr private Erinnerung an die sechziger Jahre und Gerhard, über die ich bisher nur selten gesprochen habe, möchte ich hier einflechten. Im Verein waren wir natürlich auch mit dem Blitzschach in Berührung gekommen, das übrigens bis zum Anfang der sechziger Jahre in Ermangelung von Uhren bzw. zu deren Schonung vielfach als Fünf-Sekunden-Schach gespielt wurde: Der Turnierleiter rief alle fünf Sekunden: „Zug!“ Dann mußte man unverzüglich ziehen oder hatte verloren – ein nervenzerfetzendes Spiel. Da ich damals noch ein eigenes Zimmer in der Wohnung meiner Mutter hatte, in der seit ihrer Heirat auch Gerhard lebte, spielten wir des öfteren auch privat Blitzschach, ich hatte mir dafür extra eine eigene Schachuhr angeschafft. Das machte Gerhard nach einiger Zeit nicht mehr sehr viel Spaß, ich war ihm ein zu harter Brocken. Er hatte aber bald heraus, wie er mich trotzdem kriegen konnte. In meinem Zimmer stand auf einem dafür reservierten Tisch immer ein Schachspiel bereit. Was tat er also? Wenn ich am Sonntagmorgen gerade am Aufwachen war, kam er frisch und munter in mein Zimmer, setze sich an das Brett und stellte die Uhr an. Ich ließ mich jedesmal prompt provozieren, stand auf, spielte und verlor regelmäßig die ersten beiden Partien. Auch als ich das schon längst wußte, versuchte ich immer wieder, den Bann zu brechen – erfolglos.

Ich erinnere mich auch noch daran, daß sich Gerhard oft mit Hans-Joachim Hecht zum Schachspielen traf. Daß sich Spieler so unterschiedlicher Spielstärke am Schachbrett zusammenfinden, ist eher ungewöhnlich, es sei denn der eine ist Trainer des anderen. Aber das war hier nicht der Fall, die beiden hatten einen anderen gemeinsamen Nenner gefunden und vergnügten sich mit – Würfelschach. Hans-Joachim war sowieso für jeden Blödsinn zu haben, beispielsweise trugen wir einmal ein privates Geisterschachturnier aus, an dem einige junge und starke SKT-Spieler teilnahmen, und das Hans-Joachim gewann.

Im Laufe der Zeit entwickelten wir uns weiter und fanden beide heraus, daß man in einem Schachverein nicht nur Schach spielen kann, sondern daß im Dienste der Gemeinschaft auch andere Aufgaben erledigt werden müssen. Alles, was Gerhard im Laufe der Jahre dann leistete, nachzuzeichnen, fehlt erstens der Platz und zweitens mir das Detailwissen, denn nach Abschluß meines Studiums trat ich in ein Berufsleben ein, das mich für drei Jahrzehnte sehr in Anspruch nahm, und deshalb hatte ich Mühe zu verfolgen, was andere so alles taten. Ich war froh, etwas Zeit zum Schachspielen erübrigen und daneben dem SKT in verschiedenen Funktionen dienen zu können. Erst in der letzten zwei Jahren hatte ich wieder etwas mehr Zeit, aber Gerhard, dessen eigener Gesundheitszustand nicht der beste war, hatte sich inzwischen vom Schach abgewandt und war vollauf mit der Pflege seiner schwerkranken Frau ausgelastet. Leider hat er auch so gut wie alle seine Schachunterlagen vernichtet, so daß ich nur noch aus meiner Erinnerung und alten Schachzeitungen einige Einzelheiten ausgraben konnte.

In den siebziger Jahren wurde von Siegfried Dreusicke und Alfons Henske die Werbeveranstaltung Schach im Rathaus Tempelhof aus der Taufe gehoben. Neben den vielen helfenden Mitglieder sprangen damals auch schon einige ihrer Ehefrauen ein, auch wenn sie mit Schach sonst nichts am Hut hatten, und meine Mutter gehörte auch zu diesen Heinzelmännchen, die für die erfolgreiche Durchführung einer solchen Veranstaltung so wichtig sind. In der ersten Hälfte der siebziger Jahre kümmerte sich Gerhard in unserem damaligen eigenen Klubheim in der Colditzstraße auch um die Gastronomie, und auch dabei half ihm meiner Mutter gelegentlich. 1979, als ich den Vorsitz, den ich seit 1975 inne hatte, an Lothar Becker abtrat, wurde Gerhard für ein Jahr Jugendwart und für zwei Jahre Spielleiter des SKT.

Danach war er dann im SKT zunächst nicht mehr in führenden Funktionen zu finden, hatte er sich doch schon sehr engagiert in der Berliner Schachjugend zu betätigen und bis 1977 als Jugendwart den Respekt und die Anerkennung zu erwerben begonnen, die auch sein späteres Wirken auszeichneten. Im Februar 1980 wurde er dann zunächst kommissarisch als Jugendwart des Berliner Schachverbandes eingesetzt und hat diese Tätigkeit dann vom Mai desselben Jahres hauptamtlich bis Ende März 1990, mit einer kurzen Unterbrechung Anfang 1988, sehr engagiert und erfolgreich ausgeübt. 1987 wurde er dann zusätzlich im SKT Geschäftsstellenleiter, um dann ein Jahr später sogar den Vorsitz zu übernehmen, den er bis 1989 inne hatte. Er wurde dann von Alfons Henske abgelöst, übernahm aber bis 1990 wieder die Geschäftsstelle. Aufgrund seiner Verdienste um den SKT und das Berliner Jugendschach wurde ihm 1982 die Ehrennadel des SKT in Silber und schließlich 1988 die Ehrennadel in Gold verliehen. An sein erfolgreiches Wirken im Berlinschach erinnert noch ein 1984 von Alfons Henske, dem damaligen Vorsitzenden des Berliner Schachverbandes, in Istanbul aufgenommenes Foto, das ihn mit Alfred Seppelt, dem damaligen stellvertretenden Vorsitzenden und der Berliner Stadtmannschaft zeigt.

Anfang der neunziger Jahre hat Gerhard dem Berlinschach aufgrund ihm nicht mehr zusagender Arbeitsbedingungen den Rücken gekehrt, dem SKT hat er aber noch bis zum Juni 1994 angehört, und sich dem Jugendschach in Niedersachsen verschrieben. Eine Verbindung, die sich aus seinen nationalen Kontakten bei der Jugendarbeit für den Berliner Schachverband ergeben hatte. Dort wirkte er ebenfalls sehr erfolgreich, leitete als zugelassener Schiedsrichter unzählige Jugendturniere und machte sich einen guten Namen in der Deutschen Schachjugend, die ihm 1997 für seine Verdienste die Silberne Ehrennadel verlieh.

Gerhard Jockers 1984 in IstanbulFoto: Gerhard Jockers 1984 in Istanbul

Auch beruflich hatte Gerhard, gelernter Einzelhandelskaufmann, eine Zeitlang mit Schach zu tun, als er nämlich in den frühen achtziger Jahren als Propagandist für Schachcomputer im KaDeWe arbeitete. Bei meinen vier umfangreichen für die Zeitschrift DM erstellten Marktübersichten hat er zusammen mit meiner Frau Heidi einen großen Teil der Schachcomputertests durchgeführt. Das ergänzte sich gut, ich machte mir damals einen Namen als Computerschachexperte, und er konnte, wie auch Heidi in ihrem 1981 eröffneten Schachladen, das gemeinsam gewonnene Wissen sehr gut für die Kundenberatung einsetzen.

In seinen späteren Jahren spielte er kein Wettkampfschach mehr, er hatte seine Berufung in der Arbeit für andere gefunden. Dennoch hat er auch im Schach zur Genüge bewiesen, daß er nicht nur schlaftrunkene Gegner über das Brett ziehen, sondern auch wirklich kämpfen konnte. Das zeigte unter anderem in der Saison 1981/82, als er mit 7 Punkten aus 11 Partien in die 2. Spielklasse des SKT aufgestiegen ist. Aus seiner aktiven Zeit habe ich als Beispiel für seinen Kampfgeist noch eine mit 45 min Bedenkzeit gespielt Partie aus dem Hermann-Gulweida-Turnier 1970 gefunden.

Jockers – H.-P. Ketterling, Damengambit

1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 Sf6 4. Lg5 Sbd7 Eine bekannte Falle, die ich anbot, ohne ernsthaft zu erwarten, daß mein Gegner hineintappen würde. Er tat es aber doch. 5.cd5: ed5: 6.Sd5:? Sd5: 7.Ld8: Lb4+ 8.Dd2 Ld2:+ 9.Kd2: Kd8: Schwarz hat sich nicht nur die Dame zurückgeholt, sondern ist auch mit einer Figur im Vorteil geblieben und sollte nun leicht gewinnen können, Gerhard dachte aber gar nicht daran klein beizugeben.10. e4 S5f6 11.f3 b6 12.Lc4 Ke7 13. Sh3 h6 14. Sf4 Lb7 15.e5 Se8 16.Tae1 g5 17.Sd5+ Ld5: 18.Ld5: Td8 Weiß hält den Nachziehenden die ganze Zeit beschäftigt. 19.e6 fe6: Te6:+ Kf8 21.The1 Sdf6 22.Lc6 Td4:+ 23.Kc3 Td8 24.T1e5 25.Kf7 Te7+ Kg6 26.T5e6 Kh5 27.f4 Tf8 28.Lf3+ g4 29.Te5+ Kg6 30.Lc6 Sd6 31.h4 h5 32.Tg5+ Kh6 33.Te6 Tf7 34.f5 Tg8?? 35. Tg8: Autsch – Schwarz hat in knapper Zeit übersehen, daß der den Turm angeblich deckende Sf6 leider gefesselt ist, und es fertig gebracht, die Mehrfigur in eine gesunde Minusqualität zu verwandeln. Nach 35… Kh7 wurden meine Aufzeichnungen aufgrund des Schrecks und der knappen Zeit wirr und brachen dann ab. Als Ergebnis habe ich noch remis und einen Zeitverbrauch von 31:45 min notiert, also gerade noch eine Zeitüberschreitung vermieden. Die Partie ist von beiden Kontrahenten an vielen Stellen nicht optimal gespielt worden, ganz abgesehen von den beiden wechselseitig verloren gegangenen Figuren, aber sie zeigt Gerhards Kampfgeist im besten Licht.

Die 64 Felder haben Gerhards Leben mindestens im privaten Bereich sehr stark geprägt, und daß er uns mit 64 Jahren verlassen mußte, scheint deshalb schon fast eine symbolische Bedeutung zu haben. Sein Leben war von Höhen und Tiefen geprägt und seine Stimmungen konnten auch so gegensätzlich wie die Farben der Felder des Schachbretts sein. Aber allen, die ihn näher kennen gelernt haben, wird er als verständnisvoll, großzügig und humorvoll in Erinnerung bleiben, ein Mensch, der viel zu früh von uns gegangen und dessen Wirken vielen unvergessen ist.

Am besten hat das vielleicht Jörg Schulz, der Geschäftsführer der Deutschen Schachjugend, zum Ausdruck gebracht: „Mit Bestürzung haben wir zur Kenntnis nehmen müssen, daß Gerhard Jockers verstorben ist. Schach war der Lebensinhalt für Gerhard Jockers, und hier vor allem die Jugendarbeit. Über viele Jahre hat er in verschiedensten Funktionen für das Jugendschach gearbeitet. In der Deutschen Schachjugend war er über Jahre tätig im Ausschuß für Spitzenschach und hat viele Deutsche Meisterschaften als Turnierleiter geleitet. Immer stand für ihn der Jugendliche im Vordergrund. Als ich 1987 in Hamburg im Vorstand der Schachjugend einstieg, da war Gerhard Jockers schon als alter Hase tätig und Jugendwart in Berlin. Über viele Jahre haben wir auf norddeutscher Ebene zusammengearbeitet. Und es war typisch für ihn, als die Grenzen wieder offen waren, daß er eine neue Herausforderung in der Niedersächsischen Schachjugend als Spielleiter suchte. Gerhard Jockers hat wohl den Verlust seiner Ehefrau Ende 2001 nicht mehr verkraften können. Nun ist er selbst nach langer, schwerer Krankheit seiner Frau nachgegangen. Wir werden ihn in Erinnerung behalten.“

Im gleichen Sinne schrieben Michael S. Lange, der Vorsitzende der Niedersächsischen Schachjugend, und sein Stellvertreter Lars Schmidt: „Mit großer Trauer und Bestürzung erfuhren wir vom Tode Gerhard Jockers. In den langen Jahren seiner ehrenamtlichen Tätigkeit als unser Turnierleiter war er stets ein verläßlicher, kompetenter und dem Anliegen des Jugenschachsports verbundener Vorstandskollege. Sein Hauptaugenmerk bei der Durchführung aller in seinem Aufgabenbereich liegenden Veranstaltungen war der Jugendliche selbst. Dafür und auch wegen seiner großen Erfahrung wurde er geschätzt und war insbesondere den jüngeren Vorstandsmitgliedern ein Vorbild. Für seine Verdienste um die Niedersächsische Schachjugend wurde ihm 1997 vom Niedersächsischen Schachverband die Verbandsehrennadel in Silber verliehen. Wir werden Gerhard Jockers in dankbarer Erinnerung behalten.“

Heidi und ich haben uns oft gefragt, ob Gerhard wieder zum Schach zurückgefunden hätte, wenn ihm mehr Zeit verblieben wäre – wir wissen es nicht. Sein altes Schachspiel hatte er mir schon vor einiger Zeit gegeben, als er mit allem brach, was das Schach betraf. Ich hatte es für ihn aufgehoben um es aufzuarbeiten und gehofft, es ihm eines Tages wiedergeben zu können…

Hans-Peter Ketterling