Ein Vierteljahrhundert Mikroschachcomputer

Ein Vierteljahrhundert Mikroschachcomputer

von Hans-Peter Ketterling

Im Herbst 1977 waren die beiden ersten Schachcomputer des Typ CHESS CHALLENGER 3 auf der Internationalen Funkausstellung (IFA) in Berlin zu bewundern. Belächeln wäre eigentlich die passendere Formulierung, denn ihre Leistung reichte nicht einmal dazu aus, Anfängern und Gelegenheitsspielern ernsthafte Probleme zu stellen. Das ist nun zwei Dutzend Jahre her und im März 2002 wird genau ein Vierteljahrhundert vergangen sein, seit in den USA der erste kommerzielle Schachcomputer CHESS CHALLENGER herauskam. Inzwischen hat das Computerschach einen festen Platz im Bewußtsein nicht nur der Schachspieler, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit erobert, und die gebotene Spielstärke hat bei PC-Schachprogrammen und den besten Schachcomputern ein Niveau erreicht, das selbst Meisterspielern Respekt abnötigt.

Die Wurzeln der Schachprogrammierung reichen viel weiter zurück, aber hier soll nur von Schachcomputern und Schachprogrammen die Rede sein, die jedermann zugänglich sind, und das ist eben erst seit dem Ende der siebziger Jahre der Fall. Kaum jemand erkannte zu diesem Zeitpunkt welches Potential in den kleinen verlachten Kästen steckte und konnte sich vorstellen, wohin die Entwicklung noch führen würde. Der Mikroprozessor war erst 1969 von Ted Hoff erfunden worden und wurde 1972 in Gestalt des 4004 von der damals noch jungen Firma Intel versuchsweise auf den Markt gebracht, um die Arbeit für ein anderes, schiefgegangenes Projekt doch noch verwerten zu können. Der Erfolg war überwältigend, und der Mikroprozessor hat seit damals unser aller Leben grundlegend verändert. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre begann auf seiner Grundlage die Entwicklung von einigermaßen erschwinglichen Heim- und Personalcomputern, die heute bei uns bereits in vielen Haushalten zu finden und aus dem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken sind.
Jahre bevor der erste IBM-PC erschien, hat das Trio TRS-80, PET 2001, ein Vorläufer des legendären C 64, und APPLE II den Markt für solche Computer geöffnet, und die ersten Schachprogramme dafür ließen nicht lange auf sich warten. Einige davon waren kurze Zeit später in den ersten Schachcomputern wiederzufinden, MICROCHESS 2.0 beispielsweise, das unter anderem im Mitte 1979 erschienenen CHESS CHAMPION MK II steckte.

Der Firma FIDELITY und ihrem heute noch auf diesem Gebiet aktiven Chefprogrammierer Ron Nelson gebührt jedoch das Verdienst, im März 1977 in den USA den ersten kommerziellen Schachcomputer auf den Markt gebracht zu haben. Das war der CHESS CHALLENGER, von dem nur etwa tausend Exemplare gebaut wurden. Er wies nur einen Spielstufe auf, beherrschte nicht einmal alle Schachregeln und spielte ein jämmerliches Schach. Zudem war das Schachbrett falsch bezeichnet, Linien und Reihen waren vertauscht, was einem mit der üblichen Notation vertrauten Schachpieler einiges Umdenken abverlangt, denn die Züge mußten über eine Tastatur eingegeben werden. Diesen Irrtum muß man Ron Nelson nachsehen, denn er verstand viel mehr von Mikoprozessoren als vom Schachspiel, aber er hatte den richtigen Riecher, und mit dem vor einiger Zeit verstorbenen Sidney Samole war auch ein Unternehmer zur Stelle, der es wagte, etwas in ausgefallene Ideen zu investieren. Der – durchaus unerwartete – Erfolg gab beiden recht, bereits 1981 war der von Ron Nelson programmierte millionste Chip in einem Schachcomputer verbaut worden.

Ron Nelson hat sich übrigens die Idee eines Schachcomputers patentieren lassen, aus diesem US Patent 4,235,442, das neben einer umfangreichen Beschreibung ein sehr detailliertes Flußdiagramm des Programms enthält, stammen das Blockschaltbild und die Skizze des kompletten Geräts, die übrigens auch die vertauschte Bezeichnung von Linien und Reihen zeigt.

Bereits Mitte 1977 wurde eine verbesserte Version herausgebracht, der CHESS CHALLENGER 3 mit nunmehr drei Spielstufen, den ein deutscher Vertreter für Elektronikartikel auf einer amerikanischen Messe entdeckte, kurzerhand ohne ausreichende finanzielle Rückendeckung die deutsche Vertretung dafür übernahm, und die ersten beiden Exemplare nach Deutschland brachte und auf der IFA 77 zeigte. Dieser Glücksritter war Peter-Ingolf Gericke, der mit seinem verwegenen Schritt Recht behielt, denn bald kam auch bei uns das Schachcomputergeschäft in Gang. Gericke zog später die glücklose Marke CONCHESS auf und verschwand einige Zeit später damit in der Versenkung. FIDELITY kam ebenfalls mehrfach in Schwierigkeiten und wurde schließlich Anfang der neunziger Jahre vom deutschen Schachcomputerhersteller HEGENER + GLASER übernommen, der wiederum etwas später von SAITEK geschluckt wurde. SAITEK, damals noch SCISYS, gehört mit NOVAG zu den Firmen der Gründerzeit und hat sehr viele und auch gute Geräte herausgebracht. Die Programmierer von SAITEK waren teilweise exzellente Schachspieler, beispielsweise David Levy, der durch seine Computerschachwette weltberühmt wurde, und der ehemalige Jugendweltmeister Julio Kaplan. Die Spielstärke auch der besten Geräte von SAITEK blieb jedoch immer hinter der der Konkurrenzgeräte zurück, obgleich deren Schachprogrammierer weniger von Schach verstanden, aber offenbar konnte sie das besser in Schachprogramme umsetzen. Das Erbe von FIDELITY hat inzwischen übrigens die schon länger in den USA bestehende Firma EXCALIBUR übernommen, die vom noch immer auf diesem Gebiet aktiven Samole-Clan geführt wird.

Die bewegte Geschichte der einzelnen Schachcomputerhersteller weiter nachzuzeichnen würde hier zu weit führen. Aber die Querverbindungen zu den PC-Schachprogrammen sollen wenigstens kurz angedeutet werden. In der Anfangszeit spielte das Ehepaar Dan und Kathe Spracklen, die ihre ersten Erfolge mit dem Progamm SARGON feierten, eine überragende Rolle. Sie schrieben das erste Mikrocomputerprogramm, das halbwegs vernünftiges Schach spielte und Anfang 1980 als SARGON 2.5 bei APPLIED CONCEPTS, in Deutschland durch SANDY vertreten, im MGS (Multi Game System) herauskam. Weiterentwickelte und wesentlich stärkere Nachfolgeprogramme waren später in den Schachcomputern von FIDELITY zu finden, beispielsweise im vielverkauften CHESS CHALLENGER 9. SARGON war jahrelang auf die Mikrocomputerschachweltmeisterschaft abonniert und wurde auch auf verschiedene Heimcomputer und schließlich auch auf PCs portiert.

Als sich die PCs durchzusetzen begannen, schwenkten auch immer mehr Schachprogrammierer auf diese Plattform um. Einer davon war der sehr erfolgreiche Richard Lang, der ebenfalls mehrere Mikrocomputerweltmeisterschaften erringen konnte, und dessen Programme in mehreren Schachcomputern von HEGENER + GLASER, auf dem APPLE MACINTOSH, dem ATARI ST und schließlich auch PCs zu finden waren. HEGENER + GLASER war ursprünglich mit dem MEPHISTO eingestiegen, dessen von Nitsche und Henne stammendes Programm einen intelligenteren Ansatz als die Konkurrenz verfolgte. Das letzte Programm dieser Reihe war der MEPHISTO III, der sehr tief, aber auch sehr selektiv rechnete und dadurch sowohl Glanzkombinationen finden als auch unerwartet stolpern konnte, unberechenbar wie manche menschlichen Spieler. MEPHISTO wurde in Deutschland schließlich der Begriff für Schachcomputer schlechthin.

Auf vielen Plattformen, Spielkonsolen, PCs und Schachcomputern findet man auch den CHESSMASTER, der ursprünglich von Dave Kittinger, dessen Programme in den Geräten von NOVAG steckten, programmiert wurde. Furore machte 1984 vor allem sein SUPER CONSTELLATION, der erste Schachcomputer, der nicht am Material klebte, sondern für Stellungsvorteile auch einmal etwas ins Geschäft steckte, nicht immer erfolgreich, aber gerade das war so reizvoll. Kittinger hatte das Pech, daß seine Programme der Spielstärke der Konkurrenz stets etwas hinterherhinkten, so daß er nie den ihm eigentlich zu wünschenden Erfolg des Gewinns einer Mikrocomputerweltmeisterschaft verbuchen konnte.

1985 ging auf der Mikrocomputerweltmeisterschaft in Amsterdam ein neuer Stern auf, Frans Morsch, dessen Programme sich später in vielen Schachcomputern wiederfanden und dessen populärste Schöpfung das Schachprogramm FRITZ ist, das von der Firma CHESSBASE vertrieben wird, die dank Ihrer gleichnamigen Schachdatenbank, mehrerer Spitzenprogramme und weiterer Schachsoftware inzwischen eine marktbeherrschende Stellung erobert hat.

In den letzen zehn Jahren haben weitere Programmierer ihre Programme zu Spitzenspielstärken reifen lassen können, und so bleiben heute weder bezüglich der Spielstärke, noch der Bedienfunktionen Wünsche offen, und man ist auch nicht nur auf ein oder zwei Produkte beschränkt, wenn man Spitzenleistung sucht. Die einstmals verspotteten Drahtkisten spielen heute auf einem Niveau, das auch Spitzenspielern Mühe bereitet, abgesehen von Spezialcomputern wie DEEP BLUE, die schon vor Jahren gezeigt haben, daß selbst ein Weltmeister vom Format Kasparovs gegen sie fehlgreifen kann.

Viele Leser nennen PC-Schachprogramme oder starke Schachcomputer ihr eigen, und so muß man nicht mehr beweisen, wie stark unsere elektronischen Schachpartner inzwischen geworden sind. Interessant ist es aber vielleicht, noch einmal zurückzublicken, deshalb habe ich meine allererste Partie gegen einen Schachcomputer die im Herbst 1977 im Messetrubel der IFA gespielt wurde, noch einmal hervorgeholt.

H.-P. Ketterling – Chess Challenger 3 (Spielstufe „Turnier“)

Zweispringerspiel im Nachzuge

1. e4 e5 2. Sf3 Sc6 3. Lc4 Sf6 Das versprach interessant zu werden. Ich hatte nicht die geringste Vorstellung, was mich erwartete und welche Spielstärke das etwa buchgroße Gerät hatte. 4. Sg5 d5 Eine scharfe Alternative wäre hier der Traxler-Gegenangriff 4. Lc5 gewesen. 5. ed5: Sd5: Wer die Theorie dieser Eröffnung kennt, spielt aktiver 5. Sa5, Sd4 oder b5. Ich nutzte die Gelegenheit, dem Computer ohne das wahrscheinlich stärkere 6. d4 sofort auf den Zahn zu fühlen. 6. Sf7: Kf7: Das ist für Schwarz riskant, aber Weiß muß erst einmal beweisen, daß die Stellung die Figur wert ist, vor allem, wenn er die jahrhunderte alte Theorie zu dieser Variante nicht parat hat. 7. Df3+ Ke6 8. Sc3 Dh4? Der Angriff auf den Lc4 ist ganz offensichtlich sinnlos. Die beste schwarze Verteidigung besteht im verwickelten 8. Sb4, aber auch gegen den nicht ganz ausreichenden Zug 8. Se7 muß Weiß genau spielen. Nach dem Textzug wird offensichtlich, daß der Computer mit solchen Stellungen nicht klar kommt, weil seine Rechentiefe nicht ausreicht. Später duchgeführte Tests ergaben, daß sie in dieser Spielstufe lediglich zwei bis drei Halbzüge beträgt. Mir war das während der Partei noch nicht so ganz klar, nur, daß ich jetzt wohl nicht mehr so große Schwierigkeiten haben würde, wie ich ursprünglich vermutet hatte. 9. Ld5:+ Kd7 10. Se4 Sb4 11. Df7+ Kd8 Hier hätte man eher 11. De7 erwartet, Weiß hätte dann außer dem Bauern nicht viel gehabt und außerdem auf c2 aufpassen müssen. 12. 0-0 c6 13. d4 cd5:? Diesen Raub kann sich der Computer nicht leisten, die Partie ist nun vorbei. 14. Lg5+ Dg5: 15. Sg5: ed4: 16. a3 Sc2: Er frißt alles, was er bekommen kann. 17. Tac1 d3 18. Tfe1 h6?? Er ist nicht nur verfressen, sondern auch mit Blindheit geschlagen. 19. Te8 matt. Des Computers Kommentar: „I lose“. Auf 18. … Se1: wäre 19. Dc7+ Ke8 20. Te1+ gefolgt, und der Computer hätte die beiden Läufer dazwischen stellen können, ohne dem Matt zu entgehen.

Diesen sogenannten, aber hier nicht aufgetretenen Horizonteffekt konnte man später bei vielen Programmen in der Endphase verlorener Partien beobachten, er ist übrigens nicht einfach in den Griff zu bekommen. Es war etwa ein Jahr später, daß ich zusammen mit Christian Weiß eine Blindpartie gegen den gleichen Computer spielte, diesmal allerdings in der Stufe 2. Es kam kurioserweise die gleiche Variante auf das Brett, allerdings gab es im achten Zuge mit 8. … Sd4? eine Abweichung, die den Computer noch schneller untergehen ließ. 9.Ld5:+ Ke7? Damit begeht er Selbstmord! 10. Df7+ Kd6 11. Se4 matt. Diese zweite Partie läßt sich übrigens mit dem allerersten CHESS CHALLENGER vom März 1977 ohne Abweichungen reproduzieren.Das war der damalige Leistungsstand, man glaubt das heute kaum. Wenn man erst einmal begriffen hatte, daß solche Programme weder genügend tief rechnen konnten, noch ausreichend Schachwissen vorzuweisen hatten, konnte man sie mit wenigen Zügen umbringen, man mußte nur beherzt spielen und durfte sich nicht aufs „Klötzchenschieben“ beschränken, wie der Berliner Schachpastor Heiner Früh das nannte. Gute Schachcomputer und Schachprogramme sind dafür inzwischen viel zu stark, ihre Anfängerstufen gestatten teilweise aber auch heute noch solche Partien – zur Freude all derer, für die Schach eine nur gelegentlich ausgeübte Freizeitbeschäftigung ist.

Das war der damalige Leistungsstand, man glaubt das heute kaum. Wenn man erst einmal begriffen hatte, daß solche Programme weder genügend tief rechnen konnten, noch ausreichend Schachwissen vorzuweisen hatten, konnte man sie mit wenigen Zügen umbringen, man mußte nur beherzt spielen und durfte sich nicht aufs „Klötzchenschieben“ beschränken, wie der Berliner Schachpastor Heiner Früh das nannte. Gute Schachcomputer und Schachprogramme sind dafür inzwischen viel zu stark, ihre Anfängerstufen gestatten teilweise aber auch heute noch solche Partien – zur Freude all derer, für die Schach eine nur gelegentlich ausgeübte Freizeitbeschäftigung ist.

Hans-Peter Ketterling