Weihnachtsgruß von Jürgen Brustkern
Liebe Schachfreunde,
dies ist meine Lieblingsweihnachtsschachgeschichte,die von Jules Welling(einer der beliebtesten Schachjournalisten in der 80er Jahren)in der- 2002 eingestellten- Schweizer„Schachwoche“ 1986 veröffentlicht wurde.
Um diese Juwel entsprechend zu genießen, rate ich dazu ähnlich wie in Danny Kings „Schach64“ Kolumne die weiße Züge zu erraten.
Frohe Weihnachten und erfolgreiches Jahr 2012!
Jürgen Brustkern
„Ein Läufer hält vier Springer in Schach!“ – Eine russische Weihnachtsgeschichte:
Es war zu früher Morgenstunde im Hotel“Bosrand“ in Oisterwijk(Holland),wo die Teilnehmer des Interpolis-Turniers wohnten,bevor sie vor einigen Jahren ins“De Parel“ zogen.
“Wirf einmal ein Blick auf dieses Stellung“,sagte jemand zu mir.Leider weiss ich nicht mehr, wer mir die Position vor die Nase hielt,die Stellung und die damit verbundene Geschichte werde ich jedoch nie vergessen.Sie ist von seltener Schönheit, und deshalb kümmert es mich nicht,ob sie sich ganz genau so abgespielt hat, wie sie nachfolgend beschrieben wird:
Es handelt sich um die folgende Position:
*************************************
Weiß: Kd6,Ld1,Sg4,Bd7 und Bg3
Schwarz: Kh7,Lb4,Sa6 und Sg5,Bc3,c5,e3,h6
***************************************
Die Person,welche sie mir zeigte-es muss ein sowejtischer Grossmeister gewesen sein,aber ich weiss wirklich nicht mehr wer-sagte mir,dass es sich um die Schlussstellung einer Partie aus dem Turnier von St. Petersburg 1909 oder 1914 handeln würde.So genau wusste er es nicht, und auch die Namen der Spieler waren nicht in seinem Gedächtnis haften geblieben,was aber für die Geschichte ohne Belang ist.
„Aber lasst uns annehmen, dass Osip Bernstein die weissen Steine führte“ schlug er vor.In dieser Stellung gab der Weisse die Partie auf!
Und hier begann die Geschichte vom georgischen Bauern.Dieser konnte nämlich nicht glauben, dass Weiss in der Diagrammstellung verloren sein sollte.Er übertrug die Position auf sein Taschenschach,welches er auf dem Amaturenbrett seines Traktors befestigte.Das Rätsel wurde sein ständiger Begleiter, und immer wenn es möglich war,beschäftigte er sich damit.Die Jahre zogen ins Land,Zeitalter um Zeitalter.
Er ergraute und wurde alt,hatte aber immer noch nicht den Glauben verloren,dass die weisse Position zu retten sei.Mit der Zeit gewann er ein gutes Verständnis der Stellung und konnte immerhin schon ein Remis für Weiss nachweisen!
Das Taschenschach wurde schliesslich gänzlich unnötig, so gut war er mit der Stellung vertraut.
Dann,eines Tages mitten in der Ernte auf dem Feld,hielt er seinen Traktor an.Er zählte mittlerweile beinahe siebzig Lenze.
„Das ist es,“ dachte er sich.“Weiss kann doch gewinnen!“
Am Abend lud er den lokalen Schulmeister bei sich ein,weil er nämlich seine plötzliche Erleuchtung der wichtigsten Schach-Zeitschrift der UdSSR “64“mitteilen wollte.Zusammen mit dem Lehrer setzte er einen netten Brief auf und adressierte ihn an die Redaktion,welche zur damaligen Zeit von Exweltmeister Trigan Petrosjan geleitet wurde.
Doch dieser war ständig auf Achse,war zu sehr mit seinen Turnieren beschäftigt,als er dem Anliegen eines georgischen Bauern Zeit widmen konnte.Schlimmer noch;der Brief wurde nicht einmal geöffnet.Dann ( am 13.August 1984) starb Tigran Petrosjan und Antoli Karpow wurde sein Nachfolger auf den Chefstuhl von“64“. Als erstes gab er seinem Stab die Anweisung, die liegen gebliebene Post der letzten Jahr zu sichern. Es war Mischa Tal, welcher das Schreiben des georgischen Bauern öffnete,die Stellung auf das Brett übertrug und begann,sie zu analysieren:
Ein Schrei erschallte durch das Moskauer Büro-es war Tal:
„Haltet die Druckerpresse an,das ist unglaublich!“
Alles eilte zu seinem Brett und Tal zeigte die Idee des georgischen Bauern:
1.Sf6+, Kg7
Der einzige Zug.Wenn sich der schwarze König auf die 8.Reihe begibt,ist er schnell verloren:
1.-, Kh8 2.d8=D, Kg7 3. Sh5+ , Kg6 4. Df6+, Kh7 5.Dg7# oder 3.-, Kh7 4.De7 mit schnellen Matt.
Falsch ist auch 1.-, Kg6 wegen 2.Lh5+, Kf6: 3.d8=D
2.Sh5+, Kg6
Wieder gibt es keine Wahl. Nach 2.-, Kh7 spielt Weiss 3. Lc2+ was den schwarzen König auf die 8.Reihe zwingt, wonach Weiss seinen Bauern mit Schac in die Dame führt und schnell mattsetzt.
3.Lc2 , Kxh5
Wiederum erzwungen.“Aber nun fängt die Party erst richtig an!“bemerkte Tal
4.d8=D!!
Verblüffend. Weiss opfert seinen einzigen Stolz, den vorgerückten d-Bauern.
4.-, Sf7+ 5. Ke6! , Sxd8+ 6.Kf5!
Damit schliesst sich das Mattnetz um den schwarzen König; 7. Ld1 matt!
6.-, e2
Offentsichtlich wieder einzige Zug
7. Le4!
Droht diesmal 8.Lf3 matt.Dagegen gibt es nur eine Verteidigung : Schwarz muss seinen e-Bauern erneut in einen Springer verwandeln
7.-, e1=S 8.Ld5!!
Ein ruhiger, aber wichtiger Zug. Der Springer e1 darf sich nicht vom Flecken rühren, derjenige auf d8 auch nicht wegen Lf7 matt; und ausserdem droht Lc4 nebst Le2 matt
8. -, c2 9. Lc4! , c1=S
Wiederum Pflicht.Nun besitzt Schwarz vier(!!) Springer,aber der weisse Läufer kontrolliert alle Felder.
10. Lb5
Diesmal droht das Unheil von der anderen Seite, vom Feld e8 aus.
10.-, Sc7 Erneut der einzige Zug.
11. La4!
Die Schlussstellung ist ein Diagramm wert:
Weiß: Kf5, Ba4, Bg3 Schwarz: Kh5, Sd8,c7,c1+e1,Bc5,h6)
Es droht nun Matt durch Ld1, und dagegen ist die schwarze Kavallerie machtlos!
11.-, Se2 12. Ld1, Sf3 13. Lxe2 bedeutet nur einen kleinen Aufschub.Schwarz besitzt ein Extratempo, kann jedoch nicht davon profitieren, weil jeder der vier Springer auf einem falschen Feld steht.
Der redaktionelle Sachbearbeiter von“64“ meinte“Wirklich von einmaliger Schönheit!“
Ein Reporter wurde nach Georgien geschickt, um ein Interview mit dem Entdecker dieser Glanz-züge zu führen.Als der Mann aus Moskau schließlich das Dorf erreichte, traf ihn der Schock seines Lebens:
Zwei Tage zuvor war der georgische Bauer verstorben….
Ich hätte viele Möglichkeiten gehabt,diese phantastische Geschichte auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, wollte mir aber die schöne Illusion zu erhalten.
Antoli Karpow war Teilnehmer auf 15.Interpolis- Turnier, Michael Tal ein eingeladener Gast.
Die Turnierbücher von St. Petersburg 1909 und 1914 befinden sich in meinen Regalen,es wäre
leicht,sie zu durchstöbern.Aber ich werde davon absehen.Manchmal ist es besser, eine Geschichte so zu belassen, wie sie einem dargeboten wurde,statt sich auf die Suche nach der historischen „Wahrheit“ zu machen.
Jules Welling
Veröffentlicht in der Schachwoche Nr.50 1986